Empirische Lehrprojekte

Autoethnografische Bewegungsforschung

Wie der Veranstaltungstitel andeutet, geht es in diesem empirischen Projekt sowohl um eine Methode als auch um einen Gegenstand. Erstere, die Autoethnographie, ist klar umrissen und stellt eine Methode dar, die zwar gerade in praxistheoretischen Zusammenhängen z. T. als die Methode der Wahl genannt wird, dennoch reichlich umstritten bleibt bzgl. ihrer konkreten Ausführung oder gar ihres Status als Methode überhaupt. Bei Letzterem, der Bewegungsforschung, ist weniger scharf eingegrenzt, um was es sich dabei handelt. Mit Bewegung ist nicht gemeint die ‘soziale Bewegung’, sondern die Arten und Weisen des menschlichen Bewegens, die inhärent sozial sind, weil sie (bisher) nur unter Anwesenheit Anderer gelernt und geübt, in sozialen Institutionen erfunden und verfeinert sowie in Diskursen und Medien festgehalten und verbreitet werden. Das betrifft eine große Bandbreite an ‘Bewegungsweisen’. Darunter sind die üblichen Verdächtigen Sport- oder Tanzarten, aber auch das Spielen von Instrumenten oder sogar der scheinbar ‘schlichte’ Umgang mit Artefakten die ‘zu Hand’ (oder Fuß, Bein, etc.) sind. Somit knüpft dieses Projekt an mehrere ethnographische, ethnomethodologische, körper- sowie sportsoziologische Studien an, die diverse Bewegungsformen en detail erforschen.

So hat das Projekt zwei grundsätzliche Ziele: einerseits die Methode der Autoethnographie anhand der aktuellen Literatur reflektieren und ‘am eigenen Leibe’ üben; andererseits diverse Forschungsarbeiten zu diesem `diffusen’ Gegenstand rezipieren, reflektieren, um dann mit selbstgewählten Projekten daran anzuknüpfen. Ob die Projekte einzeln oder in Gruppen durchgeführt werden, wird in Abhängigkeit des jeweiligen Gegenstands und der konkreten Forschungsform (z. B. Dualethnografie ist per definitionem zu zweit) entschieden.

Das Seminar findet wöchentlich statt und ist auf 4 SWS angelegt. Im ersten Semester werden wir in den ersten zwei Stunden Literatur präsentieren und besprechen; die zweite Hälfte der Sitzung wird 'praktischer' bspw. mit methodischen (Schreib-)Übungen bzw., je weiter das Semester voranschreitet, mit der Ausarbeitung eigener Projekte, die im zweiten Semester fortgeführt werden.

Das Projekt ist konzipiert für Studierende im Masterstudiengang, die v. a. Erfahrung mit ethnografischer Forschung sammeln wollen. So werden viele der später im Semester stattfindenden Stunden die Qualität einer Schreibwerkstatt annehmen, in denen wir unsere Schreibprodukte besprechen. Zusätzlich gibt es die Unterstützung eines zweistündigen Tutoriums, um sowohl Methodenfragen als auch Fragen bzgl. potentieller Projekte zu klären.

Literatur:
Atkinson, Paul (2006). ‘Rescuing Autoethnography’. In: Journal of Contemporary Ethnography 35.4, 400–404.
Breidenstein, Georg et al. (2013). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK.
Ellis, Carolyn (2004).The Ethnographic I.A Methodological Novel about Autoethnography. Oxford: AltamiraPress.
Reckwitz, Andreas (2003).‘Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive’. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 282–301.
Sudnow, David (1978). Ways of the Hand. The Organization of Improvised Conduct. Cambridge: MIT Press.

Urban Studies, Qualitative Stadtforschung

In dem zweisemestrigen empirischen Projekt werden wir uns ethnographisch der Frage annähern, wie sich die Dimension des Siedelns / des umbauten Raumes soziologisch erschließen lässt. Dabei werden wir mit verschiedenen Methoden dem Charakter einer Stadt nachspüren und eruieren, auf welche Weise dieser mit dem Leben und den Lebensweisen in dieser Stadt verknüpft ist.
Was bedeutet es, wenn wir sagen, Frankfurt sei eine Bankenstadt, Wiesbaden eine Beamtenstadt und Mainz die Stadt des Karnevals und der ZDF? Was bedeutet es für eine Stadt, wenn der Großteil der Bevölkerung auspendelt oder andersrum, wenn sie sich am Abend entvölkert? Merkt man einer Stadt an, dass sie reich ist und wie wird dies inszeniert, und wie äußert sich dies im Leben ihrer Bewohner? Haben Städte eine spezifische „Geschwindigkeit”? Welche Rolle spielen Medien und Technologie im städtischen Alltag? Wie sind virtueller und städtischer Raum verknüpft?
Diesen und ähnlichen Fragen werden wir in ethnographischen Forschungsprojekten auf den Grund gehen. Im ersten Semester werden zunächst Kenntnisse in Ethnographie und qualitativen Methoden vertieft, sowie zentrale Literatur zur Stadt- und Raumsoziologie, sowie zu Materieller Kultur rezipiert. Parallel dazu führen wir praktische Übungen zur ethnographischen Feldforschung durch und entwickeln Forschungsfelder und führen erste Beobachtungen durch. Im zweiten Semester arbeiten wir gemeinsam an den Daten in sogenannten Datenworkshops.
Teilnahmebedingungen sind die erfolgreiche Teilnahme an der Übung qualitative Methoden oder Vorkenntnisse in Stadtsoziologie.

Literatur:
Emerson, Robert M.; Fretz, Rachel I. & Shaw, Linda L. 2007: Writing ethnographic fieldnotes. Chicago: University of Chicago Press.
Goffman, Erving 1982: Das Individuum im öffentlichen Austausch: Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Häussermann, Hartmut & Siebel, Walter 2004: Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a.M.: Campus.
Lindner, Rolf 2007: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt a.M.: Campus.

Pränatale Sozialität

Das Projekt befasst sich mit einer Soziologie der Schwangerschaft. Pränatale Sozialität bezeichnet ein Geflecht sozialer Beziehungen, das um diesen sozialtheoretisch noch gar nicht verstandenen "Umstand" zentriert ist: 1. persönliche Beziehungen von Paaren als werdenden Eltern und zu ihrem privaten sozialen Umfeld; 2. ihre unpersönlichen Beziehungen zu fernen Dritten: Geburtshelfern verschiedener Professionen, aber fallweise auch anonyme Dritte: 'Spender'; 3. werdende Beziehungen zum Ungeborenen, um das sich alles dreht: elterlicheErwartungen, Hoffnungen und Sorgen sowie professionelle Aufmerksamkeiten, Interventionen und Fahrpläne. Das Projekt ist dem Bereich Gender Studies zugeordnet. Es wird daher wesentlich auf Fragen der Geschlechtsdifferenzierung des Ungeborenen sowie seiner Eltern zielen. Das Projekt arbeitet mit qualitativen Methoden, vor allem mit verschiedenen Formen des offenen Interviews und mit teilnehmender Beobachtung von Interaktionsprozessen. Der Besuch der Vorlesung zu den Qualitativen Methoden ist daher Voraussetzung für die Teilnahme. Teilnahmeunterbrechungen durch eigene Entbindungen werden wohlwollend behandelt!

Literatur:
Soziologie der Geschlechterdifferenzierung, Gender Studies
Hirschauer, S., 2003: Wozu ‚Gender Studies’? Geschlechterdifferenzierungsforschung zwischen politischem Populismus und naturwissenschaftlicher Konkurrenz. In: Soziale Welt, 54, S. 461-482.
Hirschauer, S., 2004: Social Studies of Sexual Difference. Geschlechtsdifferenzierung in wissenschaftlichem Wissen. In: Rosenthal, C./Steffen, T./Väth, A., (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 19-42.

Genese des Fötus, Medikalisierung und Technisierung der Schwangerschaft
Duden, B./Schlumbohm, J., et al., (Eds.), 2002: Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Duden, B., 1992: Die ‚Geheimnisse’ der Schwangeren und das Öffentlichkeitsinteresse der Medizin. Zur sozialen Bedeutung der Kindsregung. In: Hausen, K./Wunder, H., (Hg.), Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte. Frankfurt: Campus, S. 117-128.
Draper, J., 2002: ‚It Was a Real Good Show’: The Ultrasound Scan, Fathers and the Power of Visual Knowledge. In: Sociology of Health and Illness, 24, pp. 771-795.
Casper, M.J., 1998: The Making of the Unborn Patient: A Social Anatomy of Fetal Surgery. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press.

Doing gender & doing parenting - Neue Familienformen: geschlechtsgleiche Paare
Walzer, S., 1998: Thinking about the Baby: Gender and Transitions into Parenthood. Philadelphia: Temple University Press.
Reimann, R. 1997: Does Biology Matter? Lesbian Couples’ Transition to Parenthood and Their Division of Labour. In: Qualitative Sociology, 20, pp. 153-185.
Chabot, J.M./Ames, B.D., 2004. ‚It Wasn’t Let’s Get Pregnant and Go Do It’: Decision Making in Lesbian Couples Planning Motherhood via Donor Insemination. In: Familiy Relations, 53, pp. 348-356.
Cadoret, A., 2000: Homosexual Families, Construction of New Familiy Structure. In: Anthropologie et Societes, 24, pp. 39-52.

Qualitative Methoden
Einführung: Flick, U., 2002: Qualitative Forschung. Eine Einführung. Reinbek: Rowohlt.
Beobachtung, Protokolle: Emerson, R./Fretz, R./Shaw, L. (1995) Writing Ethnografic Fieldnotes. Chicago: Univ. of Chicago Press.
Narrationsanalyse, Interviewverfahren: Schütze, F., 1983: Biografieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 3, S. 283-293.
Gespräche: Bergmann, J., 1985: Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. In: Soziale Welt (Sonderband), 3, S. 299-320.
Deppermann, A., 1998: Gespräche analysieren. Opladen: Leske & Budrich.

Ereignisverknüpfungen im Sport

Man verbindet mit qualitativen Methoden sehr häufig kleinteilige Fallstudien mit geringer Reichweite. Das empirische Projekt "Ereignisverknüpfungen im Sport" beschäftigt sich anhand solcher kleinteiliger, qualitativer Studien zu Sportereignissen mit der Frage, wie sich Einzelsituationen zu Großveranstaltungen und schließlich zu weiträumigen Phänomenen verknüpfen. Wir greifen dazu auf den Forschungsansatz der Ethnografie zurück und damit auf einen Ansatz, der systematisch verschiedene Erhebungsformen verknüpft. Die Basis der empirischen Forschung bildet eine teilnehmende Beobachtung, d.h. eine vor Ort stattfindende Begleitung sozialer Praktiken über einen längeren Zeitraum. Auf diese Weise soll eine ständig reflektierte Integration ins Feld stattfinden, im Rahmen derer verschiedenes empirisches Material (Protokolle, Gesprächstranskripte, Dokumenten- und Artefaktanalysen) produziert wird. Als besondere Stärke der Ethnographie gilt die Fähigkeit des Ansatzes, nicht nur sprachliche Daten zu produzieren, sondern auch jene Elemente des Sozialen beschreiben zu können, die sich den Verbalisierungsleistungen der Situationsteilnehmer entziehen.Das empirische Projekt bietet zunächst eine theoretische und praxisorientierte Einführung in die Ethnografie. Im Zentrum steht die Planung und Durchführung empirischer Projekte in Kleingruppen.

Empfohlene Literatur:
Alkemeyer, Thomas/Boschert, Bernhard/Schmidt, Robert/Gebauer, Gunter (Hg.), 2003: Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur.
Alkemeyer, Thomas/Kodalle, Rea/Pille, Thomas (Hg.), 2009: Ordnung in Bewegung. Bielefeld: Transcript.
Amann, Klaus / Hirschauer, Stefan (Hg.), 1997: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. in: Dies.: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt: Suhrkamp, S. 7-51 (nur bis S. 41)
Emerson, Robert/ Fretz, Rachel/ Shaw, Linda, 1995: Writing Ethnographic Fieldnotes. Chicago, London: The University of Chicago Press.
Gugutzer, Robert (Hg.) 2006: Body turn: Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: Transcript.
Hirschauer, Stefan, 2001: Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. Zeitschrift für Soziologie 30: 429-451.
Kalthoff, Herbert, 2003: Beobachtende Differenz. Instrumente der ethnografisch-soziologischen Forschung. in: Zeitschrift für Soziologie 32, S. 70-90 (Unterkapitel 4.1 und 4.2 können Sie auslassen.)
Kalthoff, H., Lindemann, G. & Hirschauer, S. (2008). Theoretische Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Klein, G. & Meuser, M. (Hrsg.). (2008). Ernste Spiele: Zur politischen Soziologie des Fußballs. Bielefeld: Transcript.
Miner, Horace, 1956: Body Ritual among the Nacirema. In: The American Anthropologist 58, S. 503-507.
Wacquant, Loïc J.D., [2000] 2003: Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto. Konstanz: UVD.